Sonntag, 16. Dezember 2012

Welt ohne Licht


Welt ohne Licht

Manchmal irrte sie so umher, mit Augen zu und Licht aus, nur um zu schauen wie es wohl wäre, nichts zu sehen. Tastete sich durch die Wohnung, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, fühlte die Struktur der Raufasertapete und stoß sich ihre Finger an den Türrahmen. Aber das war dann doch nicht so das Wahre, wenn man wusste man sieht wieder etwas, wenn man die Augen öffnete und das Licht an machte. Das fühlte sich nicht echt an. Und mehr spüren als mit Augen auf tat sie auch nicht. Manchmal enttäuschte sie das, manchmal war sie dann nur froh, wieder sehen zu können wenn das Licht an und die Augen auf waren. Besonders das Glitzern der Sonne auf dem Wasser würde sie vermissen oder den Nebel am frühen Morgen, dachte sie. 
Jetzt, wo es wirklich dunkel war, auch mit Augen auf, wünscht sie sich, sie hätte mehr geübt. Manchmal ging sie einen Teil des Nachhauseweges mit geschlossenen Augen, doch wenn sie das Gefühl bekam zu taumeln, öffnete sie sie ganz schnell wieder und vergewisserte sich, dass sie nicht gleich auf die Straße stolpern würde. Jetzt taumelt sie immer und das auch mit geöffneten Augen. Vielleicht würde dies nicht so sein, wenn sie den ganzen Weg mit geschlossenen Augen gegangen wäre, mit Mut zum Taumeln. Vor drei Wochen war das Licht aus gegangen, einfach so. Keiner hatte sie vorgewarnt, das aus ihrem Spiel Ernst werden würde. Noch immer stößt sie sich die Finger an den Türrahmen und fällt die Treppenstufen hinauf. Das Gefühl, nicht zu wissen, wann die Treppe endet, stört sie am meisten. Sie findet es peinlich noch einen Schritt nach oben zu machen und ins Leere zu treten, wenn keine Treppenstufe mehr vor ihr ist. Das passiert ihr andauernd und immer wieder hofft sie, keiner würde solche Fehltritte bemerken, aber überprüfen kann sie das ja nicht. Das Glitzern der Sonne auf dem Wasser ist ihr egal. Genauso wie der Nebel am Morgen. Mehr vermisst sie die Dinge, die sie noch nicht gesehen hat. Sie wusste vorher nicht, dass man so etwas vermissen kann. Dinge die man gar nicht kennt. Die Leute aus der Gruppe sagen immer, man findet sich irgendwann damit ab, dass es Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann. Sie hat sich nicht getraut zu fragen, ob es normal ist auch zu vergessen wie Dinge aussehen, die man eigentlich schon gesehen hat. Wenn ihre Mutter sagt, der Himmel sei heute so schön blau und sie nicht mehr weiß, was der Unterschied zwischen schönem blau und normalem blau ist, kommt es ihr vor, als wäre sie so zur Welt gekommen. So ganz ohne Licht. Jeden Abend versucht sie sich an all das zu erinnern, was sie schon alles gesehen hatte und jeden Abend scheint sie ein kleines Stück mehr zu vergessen, wie die Welt aussieht.
Wenn sie mit ihren Freunden unterwegs ist, ist alles fast wie damals. Damals, als sie das alles nur manchmal gespielt hat. Das Licht aus und die Augen zu. Und wenn dann jemand ruft „Guck‘ mal!“, oder „Wow, sieht das schön aus!“, dann ist da dieses betretene Schweigen, welches sie durch ein leises Lachen durchbricht. Ironisch antwortet sie „Tut mir leid, das habe ich nicht kommen sehen.“ und ihre Freunde antworten mit einem unsicherem, unechten Lachen. Sie will nicht, dass ihre Freunde sie bemitleiden, dadurch kommt das Licht auch nicht wieder zurück. Sie tut so, als würde ihr dies nichts ausmachen. Doch abends weint sie in ihrem Bett. Dafür sind ihre Augen noch gut, das können sie noch. 
Die Leute in der Gruppe sagen, blind sein schärft alle anderen Sinne. Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen tastet sie ihre Umgebung ab, isst wie jeden Tag eine Scheibe Graubrot mit Erdbeermarmelade und riecht an ihrer Tasse Kaffee. Nichts. Keine Veränderung. Das Geländer der Treppe war schon immer etwas uneben. Sie zählt die Kerben bis zum Ende der Treppe. Auf der Raufasertapete spürt sie nicht mehr, als am ersten Tag, das Graubrot schmeckt alt und fad und den Kaffee riecht sie erst, als sie die Küche betritt. Selbst ihre Mutter riecht den Kaffee schon in ihrem Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs. Sie hört nicht besser, sondern anders. Sie erschrickt, wenn die Dielen knatschen, wenn die Tauben auffliegen oder es an der Tür klingelt.
Immer am Bahnhof spürt sie die kleinen Punkte unter dem Geländer. Blindenschrift, nennt sie die sehende Bevölkerung. Doch sie kann sie nicht lesen. Für sie ist das keine Schrift, es sind viele kleine Punkte auf einem Haufen. Seit zwei Wochen versuchen die Leute aus der Gruppe ihr zu Helfen sich zurecht zu finden, Punkte zu lesen, doch sie kann es nicht, egal wie sehr sie sich bemüht. Immer wieder nimmt sie sich einen Stift und schreibt ihre Gedanken nieder. Sie weiß, dass sie die Zeilen verliert. Manchmal bittet sie ihre Mutter, ihr das Geschriebene vorzulesen. Oft kann sie nicht mehr entziffern, was dort auf dem Papier steht. So verstummen ihre eigenen Gedanken und gehen im Geschriebenen verloren.
Manchmal irrt sie umher und stellt sich vor, sie würde ihren Körper verlassen. Leicht umher schweben wie ein Geist, die Dinge betrachtend von oben. Sie sieht dann ihre eigenen Augen hilflos hin und her wandern, ohne etwas zu fixieren. Wenn sie dieses Spiel spielt, kann sie wieder sehen, erinnert sich daran, welches man das schöne Blau am Himmel nennt und wie das Lächeln ihrer Mutter aussieht, wenn sie wirklich glücklich ist. Immer häufiger spielt sie dieses Spiel, nicht nur Zuhause, sondern auch, wenn sie unterwegs ist. Sie braucht keine Punkte zu lesen, sie liest gedruckte Buchstaben. Wenn sie so über sich schwebt, ist sie immer ganz apathisch. Ihre Freunde wissen, dass sie dann nicht wirklich da ist, sondern nur körperlich. Immer wieder wünscht sie sich, dieses Spiel würde auch Ernst werden. Und sie bekommt das Gefühl, je häufiger sie es spielt, desto ernster wird es.











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