Montag, 14. Januar 2013

Von Erfahrungen und Ungläubigen

„Es sind Erfahrungen und die Dinge, die du erlebst, die deine Seele erreichen. Die dich prägen, dich selbst ausmachen. So sät jedes Erlebnis seinen Samen in deine Seele. Es wächst ein Baum daraus oder ein zartes Pflänzchen. Und wenn diese Früchte tragen, ihre Blüten in allen Farben erstrahlen oder ihre Dornen anfangen zu schmerzen und sich ihre Wurzeln tief in dein Innerstes graben, dann erst spürst du, was dich zu dem macht, was du bist. Und glaub mir, mein Kind, Dinge sind schwer zu begreifen, wenn du nicht zulässt, dass sie dich berühren, wenn du nicht zulässt, dass ihre Wurzeln dein Innerstes erreichen, wenn du nicht ertragen kannst, dass ihre Dornen in bereits blutende und triefende Wunden reichen. Du kannst versuchen dich zu verschließen, doch sie werden immer einen Weg finden, Wege, die du dir nicht ausmalen kannst. Und in dem Moment, in dem du denkst, du hättest sie abgehängt, hättest gewonnen gegen das, was dich verfolgt, werden sie in der tiefen, doch unruhigen Nacht dir verdeutlichen, dass sie stärker sind. Stärker als alles, stärker als dein Wille zu gewinnen“, sagte der alte und ergraute Mann zu dem Jungen. 
Und wie er dies alles sprach, voller Wehmut und in Gedanken an all die Kämpfe, die er verloren hatte, beobachtete das Kind, wie sich langsam und gemächlich Wurzeln aus seinen Ohren ihren Weg in die Freiheit bahnten. Sie krochen hinab über seine Schultern und als sie anfingen seine Arme zu umschlingen, hörte man ein leises Knacken. Sein Kinn sank auf seine Brust und ein kleiner Trieb ragte aus seinem Schädel. In rasender Geschwindigkeit wuchs dieser gen Himmel. Die mit Dornen bedeckten Ranken krochen seinen Körper entlang, umschlangen jede Gliedmaße. Sie wurden kräftiger und das Ende jeder Gabelung füllte sich mit zart grünen Blättern und je weiter die Wurzeln sich ihren Weg bahnten, je fester sie ihn umschlangen, desto ausdrucksloser wurde die Mine des Herrn. Seine Augen wurden zu schwarzen Knöpfen, seine Lider senkten sich und seine Falten schienen tiefer zu werden. Seine raue Haut glich der einer welken Frucht und die Kraft wich aus seinem Körper. Die Wurzeln und Ranken schlangen sich immer fester um ihn, die Dornen gruben sich fest in das alte Fleisch. Immer wieder hörte der kleine Junge dieses verdächtige Krachen und auch er wusste, dass langsam jeder einzelne Knochen zerbrach. Wie der Herr langsam auf seinem Stuhl zusammensank, änderten die Blätter ihre Farbe. Während er in sich zusammenfiel, schnell und kraftlos, segelten die braunen, welken Blätter wie in Zeitlupe zu Boden und breiteten sich wie ein dunkler Teppich zu seinen Füßen aus. 
Teilnahmslos betrachtete der Junge das sich ihm zeigende Spektakel. Er war noch jung, dachte er sich. So etwas würde ihm nicht passieren, dachte er sich. Er würde sich niemals geschlagen geben, dachte er sich. Und während er sich seiner Sache so unglaublich sicher war, sich zum Gehen wand, zerfiel all das Gesehene zu Staub. Alles was zurückblieb, war ein kleiner grauer Haufen kleinster Teilchen. Kleine Teilchen, bestehend aus einer Geschichte. Erfahrungen, Erlebnisse, Schmerzen und Liebe. Kopf, Dornen, Herz und Blätter. Ein kalter Wind kam auf und während sich der Junge ein letztes Mal umdrehte, um nach dem Rechten zu sehen, um ein letztes Mal zu überprüfen, ob all das Gesehene wirklich stattgefunden hatte, umhüllte ihn die graue Staubwolke für einen kurzen Augenblick, bevor sie weiterzog. Er vergaß, die Luft anzuhalten. Er vergaß, die Augen zu schließen. Er vergaß, seine Lippen aufeinander zu pressen. „Jedes Erlebnis sät seinen Samen in deine Seele“, dachte er sich und versuchte den staubigen Geschmack in seinem Mund durch mehrmaliges Schlucken zu bekämpfen.