Donnerstag, 13. Juni 2013

So wär‘ ich doch ein Vogel




So wär‘ ich doch ein Vogel

„So gern wär‘ ich ein Vogel!“, sagt Finn, als er der Erzieherin sein Bild zeigt. Ein Haus, ein Baum, ein Vogel. „Wär‘ ich ein Vogel, würd‘ ich in den Himmel fliegen und meine Großmutter besuchen. In meinem Schnäbelchen würd‘ ihr dieses Bild hier bringen und ihr erzählen, was Mama und ich hier unten so ganz ohne sie machen.“

„So gern wär‘ ich ein Vogel!“, klagt Martha, als sie ihr Büro verlässt. Ein Fenster, ein Auto, ein Vogel. „Wär‘ ich ein Vogel, würd‘ ich davonfliegen, in eine fremde Stadt, dem Alltag entfliehen. Ich würd‘ die Dinge tun, die ein Vogel tut. Gedankenlos und frei.“

„So gern wär‘ ich ein Vogel!“, bedauert Klaus, als er aus dem Fenster seines kleinen Zimmers schaut. Ein Bett, ein Stuhl, ein Vogel. „Wär‘ ich ein Vogel, würd‘ ich ein letztes Mal meine Flügel ausbreiten, all die fernen Länder bereisen, mir die Welt von oben anschauen und dann merken, wie klein und vergänglich wir Menschen doch sind.“



„Doch bin ich nur ein Mensch“, sagt Finn und faltet sein Bild zwei Mal. Ein Haus, ein Baum, ein Vogel. „So bin ich ein Mensch und besuch‘ Großmutter am Grab.“ Er kniet nieder, legt sein Bild auf das Grab und erzählt, wie gut es ihm und seiner Mutter auch ohne sie geht.

„Doch bin ich nur ein Mensch“, klagt Martha und öffnet die Tür ihres Kleinwagens. Ein Fenster, ein Auto, ein Vogel. „So bin ich ein Mensch und tu‘ meine Pflicht.“ Und so fährt sie nacht Hause und bereitet sich gedankenverloren seelisch auf den nächsten Tag vor, welcher all den anderen Tagen zuvor gleichen wird.

„Doch bin ich nur ein Mensch“, bedauert Klaus und erhebt sich mit viel Mühe von seinem Platz. Ein Bett, ein Stuhl, ein Vogel. „So bin ich ein Mensch und merk‘ nun, wie klein  und vergänglich wir Menschen doch sind.“ Er legt sich in sein Bett und denkt daran, wie viel er doch verpasst hat.