Montag, 12. November 2012

Die grüne Kaffeetasse


Die grüne Kaffeetasse

Die grüne Tasse. Er trank immer aus dieser grünen Tasse. Jetzt stand sie da, am gedeckten Frühstückstisch, ohne Inhalt. Er trank keinen Kaffee, der war ihm zu bitter. Er trank Milch, aber nur, wenn sie aus dem Kühlschrank kam. Er trank kein Glas Milch, sondern eine grüne Tasse Milch. Jetzt stand sie da, leer. Sie stand da schon seit einer Woche und keiner hatte sie bisher bewegt, keiner würde sie jemals bewegen. Wahrscheinlich hatte sich eine feine Staubschicht an ihrem Boden abgesetzt und wenn man hinein pusten würde, müsste man niesen. Ich setzte mich an den Tisch, stellte mir vor, wie er mir gegenüber sitzen würde, seine Witze machend, an seiner Zigarette ziehen und gleichzeitig Zeitung lesend. Er las die BILD. Er mochte es, wie sie ihn durch  provokante Art und Weise zum lachen bringen konnten. Eigentlich las er nicht die BILD, er schaute sie sich nur an. Er las Bilder, manchmal auch die Überschriften. Ich hatte immer die örtliche Zeitung ihm gegenüber aufgeschlagen und ihn über das wahre Leben aufgeklärt. Ich las jetzt keine Zeitung mehr. Ich wusste auch ohne Zeitung über das wahre Leben bescheid. Feine Tabakkrümel lagen über den Tisch verstreut. Seine Tabakkrümel. Er war nicht gut darin, sich seine Zigaretten zu drehen und tat es trotzdem. Durch ihn hatte ich auch damit angefangen, mit dem rauchen. Und so saß ich nun dort, an dem Küchentisch mit seiner grünen Tasse und meiner Zigarette in der Hand. Allein rauchen machte keinen Spaß, es verlor seinen Reiz. Mein Tabak war fast leer, seinen würde ich trotzdem nicht nehmen. 

Zum gefühlt hundertsten Mal faltete ich seinen Brief auseinander. Das Papier fühlte sich dünn an und die vielen Knicke machten das Geschriebene noch unleserlicher, als es durch seine kindliche, unleserliche Schrift war. Der Junge war 25 und schreib noch immer wie ein Grundschüler. Er hatte mit Kugelschreiber geschrieben und jedes einzelne Wort wirkte lieblos auf das Papier geklatscht. „Ihr werdet es auch ohne mich schaffen.“ Warum bitte schrieb er „ihr“? Und warum konnte er sich dieser Sache so unglaublich sicher gewesen sein? Er benutzt dieses Wort „ihr“ als würde die ganze Welt um ihn trauern, als würde sich all das Leid auf tausende Menschen verteilen und sich so immer wieder aufs Neue halbieren um am Ende gar nicht mehr so schlimm zu sein. „Du kannst mein rotes Sofa haben. Das mochtest du doch immer so sehr.“ Dieses hässliche rote Sofa, mit den weißen, schwarzen und gelben Flecken von denen keiner mehr wusste, wovon sie stammen. Dieses rote Sofa auf dem wir abends immer gemeinsam in seinem Zimmer saßen und uns anschwiegen. Kein unangenehmes Schweigen, sondern das unter Freunden, die sich auch stumm verstanden. Auf dem wir gemeinsam einschliefen, obwohl wir eigentlich den Film zu Ende schauen wollten, uns die Müdigkeit dann aber doch besiegt hatte. Das rote Sofa, auf dem wir uns über peinliche Situationen in unserem Leben lustig gemacht hatten, auf dem wir uns in die Arme nahmen, wenn wieder einmal ein Mädchen einen von uns verlassen hatte, das Sofa auf dem er zuletzt saß, auf dem ich  ihn  das letzte Mal gesehen habe, bevor er ging und meinte, ich solle den Brief erst öffnen, wenn ich sein Auto wegfahren höre. Das Sofa, auf dem ich seinen Brief das erste Mal öffnete. Als ob ich dieses beschissene rote Sofa jetzt noch haben wollen würde. Das wäre das erste, was aus dem Fenster fliegt. 

„Das Geld für die nächste Miete liegt unter dem Kopfkissen, mehr kann ich dir leider nicht geben. Aber ich kenne dich, du kommst klar.“ Ja, das Geld für die nächste Miete lag unter dem Kopfkissen. Mehr aber auch nicht. Und was brachte mir das Geld? Als ob ich hier bleiben würde, wenn er nicht mehr da war. Als ob ich es schaffen würde, morgens pünktlich aufzustehen. Als ob ich einen neuen Mitbewohner finden würde, der mein geordnetes Chaos ertragen würde.  Als ob ich hier irgendetwas auch nur ansatzweise wieder auf die Reihe bekommen würde. Als ob ich klar kommen würde.
„Bitte mache dir keine Vorwürfe. Fange nicht an mich zu vergessen, sondern fange an zu akzeptieren, dass ich nicht wieder kommen werde.“ Wer war es, dem er von allem erzählt hatte. Wer hatte ihm zustimmend auf die Schultern geklopft und immer dafür sorgen wollen, dass er seinen Kopf wieder hebt. Wer hat die letzten Tage nur noch genervt geschaut, wenn er wieder einmal niedergeschlagen die Wohnung betreten hatte. Wer vergaß langsam daran zu denken, ihm seine grüne Tasse auf den Frühstückstisch zu stellen und neue Milch zu kaufen. „Bitte mache dir keine Vorwürfe“, dass ich nicht lache.

Ich nahm seinen Brief, faltete ihn sorgfältig zwei Mal in der Mitte, schmiss ihn in seine grüne Tasse und meine nun fast aufgerauchte Zigarette gleich hinterher. Der sich entwickelnde Rauch roch befreiend und nach einer kurzen Zeit überhörte ich das monotone Piepen des Rauchmelders. Ich goss brühend heißen Kaffe in die grüne Tasse. Ohne den Staub vorher raus zu pusten. Warum sollte ich auch? 



Donnerstag, 8. November 2012

Heimat ist, wo du nicht bist.

Heimat ist, wo du nicht bist.

Flucht, der wohl letzte Weg. So endet es jeden Tag. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag. Ich schließe die Tür hinter mir. Die Stimmen dringen durch die geschlossene Tür, scheinen nicht leiser zu werden. Sie dringen in meinen Kopf, lassen nicht los, klammern sich fest, bekämpfen all das Positive, zerstören meine Fantasie, zerstören mich. Ich höre die Schläge, die Gegenstände, die durch das karg eingerichtete Wohnzimmer fliegen. Wann wird er endlich gehen? Niemals, vielleicht wenn er tot ist. 
Gewalt. Heimat ist, wo du nicht bist.

Der Platz am Fluss. Meine Insel in einem Meer voller Unheil. Sie schwirren umher, all diese Gedanken. Würde gern schreien, alle Welt an ihnen teilhaben lassen, sie ertränken oder feiern. Keiner da. Nur die Wellen antworten, doch in einer fremden Sprache. Wer möchte hören, was sonst keiner denkt? Wer möchte sehen, was sonst keiner sieht? Niemand.
Einsamkeit. Heimat ist, wo du nicht bist.

Ich gehe umher, sehe ihn. Er steht, wo er immer steht. Eine von Schatten bedeckte Ecke der Hauswand. Seine viel zu weißen Zähne blitzen auf, als sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet. Seine Grübchen scheinen von mal zu mal tiefer zu werden, genau wie seine Blicke. Warum lacht er immer, wenn ich an ihm vorbei gehe? Er weiß etwas, lacht mich aus. Oder mag er mich? Ich senke den Kopf, schaue zu Boden, würde mich gern auflösen.
Unsicherheit. Heimat ist, wo du nicht bist.

Mein Kopf bleibt unten. Ich beginne zu denken. Kann ich ausbrechen? Ja, nein, ja, nein. Schau dich an. Blass wie eine Leiche, unscheinbar wie Luft, doch der Kopf vernebelt. Bist du wirklich du selbst? Kann ich schaffen, was auf meinem Plan steht? Alle gelenkt von Führern, beeinflusst von Werbung, unterdrückt von sich selbst.
Zweifel. Heimat ist, wo du nicht bist.

Ich hebe den Kopf. Dort, die große Schaufensterscheibe ist wie ein Spiegel, wenn die Sonne so auf sie scheint. Meine schlaksige Gestalt wie ein Schatten, um mich herum bunte, gesichtslose Punkte. Sie rennen umher, als hätten sie keine Zeit. Haben sie keine Zeit? Keine Zeit zu denken, keine Zeit zu fühlen.
Hast. Heimat ist, wo du nicht bist.

Ich wende mich ab. Gehe meinen Weg. Es klopft hinter mir. Immer im Gleichschritt. Rechts, links, rechts, links. Hastig drehe ich mich um. Nichts. Meine Schritte werden schneller. Rechts, links, rechts, links. Ein Lufthauch in meinem Nacken. Ist er etwa da? Direkt hinter mir, ist mir gefolgt, lässt seinen Blick nicht von mir. Ein Blick zurück. Nichts.
Angst. Heimat ist, wo du nicht bist. 

Ich setze den Fuß auf den Bordstein. Hebe mein Bein, hieve meinen viel zu dünnen Körper über das Geländer. Wind weht, der Geruch von Regen. Einen Moment denke ich nach, lasse los. Ein kurzer Flug, alles zieht an mir vorbei. Ich wachse an meinem Mut, bereue nichts. Autos hupen, ich schlage auf. Alles ist vorbei.
Tod. Heimat ist, wo du nicht bist.

Heimat ist, wo solche Gedanken ruhen.